Der Ötztaler Radmarathon: 238km, 5500 Höhenmeter, 4 Alpenpässe. Seine Fragen und sind es nicht immer die gleichen Antworten die gut 4000 verrückte Radmarathonisti Ende August beim Ötztaler suchen? Bei ersteren sind sich alle irgendwann einig – spätestens am Start. Letztere werden erst am Renntag spät nachmittags beantwortet.
Wie wird gleich nochmal das Wetter? Ich hoffe doch trocken und nicht zu viel Sonne. Regen? Schnee? Gabs ja alles schon in den letzten Jahren. Unfall-, sturzfrei und Hauptsache ins Ziel kommen! Aber: Sub9? Wär geil! Sub10? Oder doch „nur“ Sub11?
Mit dem richtigen Pacing Tool lässt sich diese Diskussion auf ein ganz anderes Niveau heben. Vor allem dann, wenn dir klassische Ansätze, wie simple Vergleiche von Vorjahresleistungen und etwas Bauchgefühl am Ende nicht aussagekräftig genug sind.
Jürgen Pansys hat in mühevoller Detailarbeit ein wissenschaftliches Werkzeug für den Ötztaler Radmarathon mittels Leistungsmessung entwickelt. Noch nie hatte ich so ein ausgeklügeltes Spielzeug zur Verfügung. Er hat wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet.
2015 habe ich selbst meine Rennstrategie beim Ötztaler Radmarathon damit geplant und meine Durchgangszeiten und mögliche Zielfenster errechnet.
Ist es zuverlässig? Was sollte ich bei der Prognose beachten? Was ist realistisch?
Legen wir los und folgen Jürgens Anwendungsempfehlungen. Was das Tool im kleinsten Detail macht beschreibt er sehr gewissenhaft hier.
Anwendungsempfehlungen:
Ich bin den Anwendungsempfehlungen gefolgt und habe wie beschrieben meine virtuelle Ötztaler Zeit errechnet:
Ich sollte den Ötztaler demnach in circa 9 Stunden und 40 Minuten finishen.
Klang für mich damals als vernünftig mit gut Luft nach oben. Ich war mir meine Sache sehr sicher, da ich neben reinster Theorie auch einiges an Praxis einfließen lassen konnte.
Das Ergebnis ist bekannt: Nach 9 Stunden und 32 Minuten erreichte ich 2015 das Ziel in Sölden.
Ich freute mich wie ein kleines Kind, war und bin mächtig stolz. Diese Zeit hatte mir ja bereits die virtuelle Prognose vorhergesagt.
Obwohl meine Vorhersage und die Zielzeit nicht weit auseinander sind bin ich nach weiteren Ötztaler Auswertungen zu einem anderen Schluss bekommen. Fangen wir aber mit ein bisschen Theorie an.
Die Funktionsleistungsschwelle (FTP) ist der Bereich in dem du maximale Leistung auf dem Rennrad über einen Zeitraum von 60 Minuten halten kannst. Diese Leistung, die sogenannte Schwellenleistung, ist Grundlage zur Ableitung von Trainingsbereichen.
Es gibt einige Wege oder Berechnungsmodelle zu deinem FTP zu gelangen. Folgst du Ansätzen von Kreuzotter oder bist der Meinung, dass du mit geschätzten Strava Wattwerten arbeiten könntest, muss ich dich leider enttäuschen: **Das ist der Holzweg!
** Beide spuckten mir viel zu hohe FTPs aus. Ist auf den ersten Blick zwar super motivierend, aber bei einem Radmarathon dieser Kategorie machen 10 Watt +/- enorm viel Zeit bei der Endabrechnung aus.
Am sinnvollsten wäre es noch dem von Hunter und Coggan empfohlenem 20 Minuten Praxistest zu folgen. Damit kannst du zumindest deine Funktionsleistungsschwelle mit einer praxiserprobten Methode ermitteln und daraus Trainingsbereiche ableiten.
Voraussetzung ist, dass du einen Wattmesser am Rad montiert hast. Ein Profil das 20 Minuten Vollgas zulässt wäre sehr zu empfehlen. Perfekt ist ein kleiner und flacher Rundkurs.
Entscheidend ist nun das 20 Minuten Fenster. Ermittle deine Durchschnittswattleistung für diese 20 Minuten. Davon ziehst du nochmal 5 Prozent ab, da die Funktionsleistungsschwelle (FTP) über einen Zeitraum von 60 Minuten auf Grundlage einiger zuverlässiger Studien so definiert ist. Angenommen deine Durchschnittsleitung über 20 Minuten lag bei 250 Watt, dann ist dein FTP bei 237,5 Watt. Das wäre die Zahl mit der du ins Ötztaler Pacing gehen könntest.
Die Theorie sagt: „Es wäre sehr ermüdend eine Stunde lang am Limit zu fahren. Es würde Phasen höherer Belastung erfordern und teils nicht wirklich in Trainingspläne passen.“
Die Praxis antwortet: „Genau das sind die Szenarien die du bereits im Training simulierst und simulieren solltest um dich auf so einen Radmarathon vorzubereiten. Du musst nicht „betrügen“ und deinen FTP-Wert mit einem 20-minütigen Test bestimmen.“
Wenn du eh schon mit einem Powermeter trainierst und fleißig Daten sammelst, dann ist es auch ohne FTP-Test einfach deine Leistungskapazität für eine Stunde zu ermitteln.
Willst du mit zuverlässigen und realistischen Werten arbeiten schau dir aktuelle Durchschnittsleistungen letzter Trainingsergebnisse an.
Leistungsdurchschnitte über Zeitfenster von 20, 30, 60 und 90 Minuten liefern dir alle wichtigen Parameter die du brauchst.
Die Lücke zwischen dem 20 und 30 Minuten Wert mag gar nicht so groß sein. Die zur 60 Minutenleistung oder den 90 Minuten schon eher. Letztere sind genau die FTP-Parameter mit denen du im Pacing Tool arbeiten solltest.
Warum? Weil dich beim Ötztaler vier richtig lange Anstiege erwarten. Alle halten dich für locker 60 Minuten in Schach. Das Timmelsjoch am Ende sogar deutlich länger als 90 Minuten.
Von meiner Strategie in Abfahrten wenig zu investieren und in den Anstiegen nicht ans Limit zu gehen bin ich während des Ötztaler Radmarathons nicht abgewichen. Mein Bauchgefühl sagt mir das einfach!
Allerdings habe ich vollkommen andere Wattwerte in den verschiedenen Abschnitten geleistet als ich virtuell im Vorfeld errechnet hatte.
Die %FTP Werte sind, zumindest für meinen Teil, vollkommen unrealistisch und viel zu hoch für die Dauer der Zeit, die ich in den Anstiegen verbringe. Das sind ja immer mehr als eine Stunde und das nicht nur einmal sondern 5x.
Nehmen wir also das Excel machen eine Rolle rückwärts und rechnen zurück:
Sollte deine Rennstrategie meiner ähneln kannst du dir jederzeit die aktuelle Online Version in Google Tabellen anschauen und auf Basis dessen deine Strategie erweitern.
[Online Version (Google Tabellen)]
Sehr gerne kannst du auch dazu beitragen das Pacing noch genauer, noch besser, noch ausgefuchster machen. GitHub bietet uns eine tolle Kollaborationsplattform. Die Datei in Reinformat, auch zum Download, findest du dort.
Spannend ist noch ein direkter Vergleich meiner Leistung mit richtigen Profis und deren Wattleistungen. Stellen wir also eine sehr einfache Milchmädchenrechnung an. Grundlage sind aus dem Internet bekannte Bestwerte ehemaliger Profiradrennfahrer der Herren Pantani, Ullrich und Armstrong. Annahme ist, dass jeder der Profis mit genau der gleichen Strategie unterwegs gewesen wäre wie ich.
Profi | Gewicht | Wattleistung | Datum | Prognose | Differenz |
---|---|---|---|---|---|
Marco Pantani | 56kg | 503W | TDF Alpe d’Huez 1997 | 5:48:00 | -3:44:00 |
Jan Ullrich | 71kg | 484W | TDF Alpe d’Huez 1997 | 5:32:00 | -4:00:00 |
Lance Armstrong | 72kg | 488W | TDF Sestriere 1999 | 5:32:00 | -4:00:00 |
[Online Version (Google Tabellen)] [Datei herunterladen (GitHub)]
Hinweis: Ich erhalte häufig Freigabeanfragen via Google Tabellen. Ich kann und ganz ehrlich werde niemandem meine Beispieltabelle mit Berechtigungen “Bearbeiten” freigeben. Sobald ihr aber eine eigene Kopie in euren eigenen Google Space erstellt habt ihr alle Bearbeitungsoptionen und sogar eure individuelle Tabelle in die euch niemand erstmal reinschauen kann.
Das geht total einfach: Online Version Google Tabellen öffnen > oben links auf Datei > Kopie erstellen > fertig.
Hab einfach Spaß! Es ist ein großartiger Radmarathon! Und bis dahin lass dir meinen tollen Mahlgrad an Kaffeesatzleserei schmecken.